Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
die Politik ist momentan gefordert wie selten, Regierungshandeln erfolgt unter extremen Unsicherheiten und sich ständig verändernden Rahmenbedingungen. Dabei sind vielfältige Interessen und Interessensgruppen zu berücksichtigen, Mehrheiten zu organisieren und Prioritäten zu definieren. Wir wissen, dass wir uns dabei in den letzten Jahren alles in allem in Baden-Württemberg in „guten Händen" befunden haben.
Erlauben Sie uns aber trotzdem oder gerade deswegen, dass wir uns heute als Vertreter der 1.101 Städte und Gemeinden, der 35 Landkreise, der rund 800.000 Betriebe sowie der 50 Sparkassen und rund 140 Volksbanken und Raiffeisenbanken in unserem Land mit einem sehr grundsätzlichen Anliegen an Sie wenden.
Die Bundesrepublik Deutschland erlebt aktuell eine Vielzahl von parallel verlaufenden Krisen in einem Ausmaß, wie wir sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gesehen haben. Krieg inmitten von Europa, Millionen Menschen auf der Flucht, Inflation in einer über Jahrzehnte ungekannten Höhe, Pandemie. Und über alldem wird auch in Europa die Klimakrise immer spürbarer. Vor allem die Energie- und Versorgungssicherheit ist aktuell in Frage gestellt, die Energiekosten für Bürgerinnen und Bürger, Wirtschaft und Kommunen bewegen sich in einer die wirtschaftliche Existenz bedrohenden Höhe.
Die viel zitierte Zeitenwende hat die Welt verändert und sie muss damit auch ganz konkrete Auswirkungen auf die Prioritätensetzung zentraler Politikfelder haben. Die Verteidigungs- und Bündnisfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland, ein verbesserter Katastrophen-, Zivil- und Bevölkerungsschutz, die Sicherung der Energieversorgung und die Aufrechterhaltung des sozialen Friedens sind Beispiele für eine neue, dringend erforderliche Prioritätensetzung. Die politisch zugesagten Entlastungen und Rettungsschirme müssen ebenfalls finanziert und administriert werden. Dabei gilt es, die langfristigen Herausforderungen des demografischen Wandels sowie einer gelingenden klimagerechten, digitalen und demografiefesten Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft nicht aus dem Blick zu verlieren.
Leider müssen wir Ihnen berichten, dass die Verantwortlichen in Kommunen und Wirtschaft sowie bei den Sparkassen und Genossenschaftsbanken angesichts dieser Rahmenbedingungen äußerst besorgt in Richtung Zukunft blicken.
Doch gerade als Wirtschafts- und Industriestandort Baden-Württemberg wissen wir auch darum, was Baden-Württemberg in den zurückliegenden 70 Jahren so erfolgreich gemacht hat. Dies war in besonderem Maße eine kluge Standort- und Strukturpolitik, mit der die Grundlage für Wirtschaftskraft und Wertschöpfung und damit für den gesellschaftlichen Wohlstand und die ganzheitliche Entwicklung unseres Landes geschaffen wurde. Wesentlichen Anteil daran hatte das gute und effiziente Zusammenwirken von Verwaltung und Wirtschaft – insbesondere auf örtlicher Ebene.
Ohne diesen volkswirtschaftlichen Erfolg wären wir zukünftig nicht mehr in der Lage, ausreichend in die nachhaltige Transformation, in Bildung, Wissenschaft und Innovation zu investieren. Die Zukunftsfähigkeit wäre damit bedroht und auch der Sozialstaat käme an seine Grenzen.
Und deshalb sehen wir es als unsere besondere Verantwortung an, mit diesem Schreiben einen grundsätzlichen Reformprozess anzuregen. Denn die Fortführung dieser volkswirtschaftlichen Stärke erfordert einen konsequenten und dringlichen Veränderungsprozess und eine klare Priorisierung der staatlichen Kraft auf die Zukunftsfähigkeit unseres Landes.
Bisher gefundene politische Antworten und das Festhalten an Koalitionsvereinbarungen – deren Geschäftsgrundlage eigentlich nicht mehr existiert – hindern Staat und Gesellschaft die erforderlichen Veränderungen zu erreichen. Die Zeit eines ungebremsten Draufsattelns bei Standards, Rechtsansprüchen und staatlichen Leistungszusagen ist vorbei.
Wir brauchen einen Wandel hin zu einem modernen Zukunftsstaat mit verlässlichen und umsetzbaren Zusagen.
Diesen Impuls wollen die Unterzeichner dieses Briefes geben und damit einen politischen Prozess zu den zentralen Fragen für unsere Zukunftsfähigkeit initiieren: Was können ein effizienter Staat und eine nachhaltige Wirtschaft künftig leisten und was nicht? Was soll eine Gesellschaft zukünftig verlässlich vom Staat erwarten können? Und welche Rahmenbedingungen braucht es dafür?
Uns ist bewusst, die Grundlage für einen solchen Prozess bilden ein neuer Realitätssinn und der Mut zur grundlegenden Veränderung.
Bei ehrlicher Betrachtung beschäftigen sich Staat, Wirtschaft und Gesellschaft viel zu oft mit sich selbst. Nur beispielhaft wollen wir die Umsetzung des § 2b UStG, die EU-Datenschutzgrundverordnung und ihre Umsetzung bzw. Anforderungen des Datenschutzes in Deutschland, die mangelnde Zielorientierung und Fokussierung auf Effizienz und Wirkung durch die Klimaschutzregulatorik, die überbordenden Regelungen beim Bauen und die Komplexität des Vergaberechts nennen sowie Auflagen für kleine und mittlere Banken.
Die Folge sind lähmende Behäbigkeit und ein empfundener Stillstand.
Um dies zu überwinden, bedarf es einer Flexibilisierung der rechtlichen Rahmenbedingungen hin zu einer echten Subsidiarität, eines spürbaren Abbaus von Regulierungsstandards und einer konsequenten Aufgabenkritik und Entbürokratisierung. Ein Weniger aber dafür richtig, verlässlich und schnell muss zum Maßstab gesetzgeberischer Regulierung werden. Denn gerade in Zeiten des Fachkräftemangels müssen wir jede Arbeitskraft produktiv und wirksam einsetzen.
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
in Ihrer Regierungserklärung zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine haben Sie am 6. April 2022 im Landtag von Baden-Württemberg richtigerweise betont, dass wir alle als Teil der Gesellschaft und des Staates Verantwortlichkeiten für das Ganze haben.
Wir bitten Sie, diesen Brief genau in diesem Sinne zu verstehen. In großer Sorge um unser Land sehen wir uns in der Verantwortung, zum Gelingen unseres Staates beizutragen. Um dieses Gelingen auch künftig möglich zu machen, benötigen wir einen echten Entfesselungspakt, der uns aus einem überregulierten Gesetzesrahmen befreit.
Deshalb schlagen wir Ihnen vor, einen Zukunftskonvent einzuberufen. Dabei geht es explizit nicht (!) um einen weiteren „Krisengipfel“. Dieser Zukunftskonvent sollte vielmehr den Auftrag des Gesetzgebers erhalten, konkrete Vorschläge für einen solchen Ermutigungs- und Entfesselungspakt zu formulieren.
Natürlich ist uns bewusst, dass durch einen derartigen Prozess mutmaßlich auch die Anpassung von Recht auf Bundes- und Europaebene als erforderlich empfohlen wird. Gleichwohl könnte sich gerade das Wirtschafts- und Innovationsland Baden-Württemberg und seine Landesregierung an die Spitze einer solchen Bewegung setzen.
Mit Blick auf die dargestellten Herausforderungen sollten wir hier nicht zu viel Zeit verlieren und in einem klar definierten Format mit klarem und zeitlichem Ziel vorgehen. Wir sagen Ihnen dabei eine lösungsorientierte und engagierte Unterstützung durch Kommunen und Wirtschaft sowie der Sparkassen und Genossenschaftsbanken zu. Wir werden uns mit ganz konkreten Vorschlägen in einen solchen Zukunftskonvent einbringen.
Gleichlautende Schreiben haben wir uns erlaubt an Herrn Stellvertretenden Ministerpräsidenten und Innenminister Thomas Strobl sowie die Herren Fraktionsvorsitzende Andreas Schwarz MdL und Manuel Hagel MdL zu senden.
Mit freundlichen Grüßen
Steffen Jäger, Präsident Gemeindetag Baden-Württemberg
Dr. Peter Kurz, Präsident Städtetag Baden-Württemberg
Joachim Walter, Präsident Landkreistag Baden-Württemberg
Rainer Reichhold, Präsident Baden-Württembergischer Handwerkstag e.V.
Christian O. Erbe, Präsident Baden-Württembergischen Industrie- und Handwerkskammertag e.V.
Senator e.h. Dr.-Ing. Rainer V. Dulger, Präsident Unternehmer Baden-Württemberg e.V.
Peter Schneider, Präsident Sparkassenverband Baden-Württemberg
Dr. Roman Glaser, Präsident Baden-Würtembergischer Genossenschaftsverband e.V.