Landkreistagspräsident Walter: „Wir brauchen einen Richtungswechsel in der Migrationspolitik – jetzt“
Zur aktuellen Debatte um die Geflüchtetenaufnahme erklärt der Präsident des Landkreistags, Landrat Joachim Walter (Tübingen):
„Die Kommunen hierzulande haben sich in den vergangenen Jahren stets ihrer humanitären Verpflichtung gestellt. Seit Kriegsbeginn sind in Baden-Württemberg rund 176.000 Menschen aus der Ukraine aufgenommen worden. Daneben sind allein in den ersten acht Monaten dieses Jahres über 24.000 Erstanträge auf Asyl gestellt worden. Das ist doppelt so viel wie im Vorjahr. Und die Zugangsdynamik nimmt weiter zu.
Schon seit geraumer Zeit weisen die Kommunen mit hoher Dringlichkeit darauf hin, dass die Kommunen mit ihren Aufnahme- und Integrationskapazitäten am Limit sind. Wenn es weiterhin nicht gelingt, die Zugangszahlen zu begrenzen, wird immer häufiger auf Notunterkünfte zurückgegriffen werden müssen. Hinzu kommt, dass Kitas, Schulen und die medizinische Versorgung bereits heute massiv belastet und teilweise auch schon überlastet sind. Gleiches gilt für die Ausländerbehörden und Aufnahmeverwaltung.
Wir brauchen daher dringend einen Richtungswechsel in der Migrationspolitik. Insbesondere muss sich der Bundeskanzler endlich mit aller Entschiedenheit für eine gerechtere Verteilung der Geflüchteten in der Europäischen Union einsetzen und darf nicht länger darauf vertrauen, dass sich europäische Solidarität von selbst ergibt. Auch muss die Liste der sicheren Herkunftsstaaten rasch erweitert werden, etwa um die Maghreb-Staaten und auch um die Türkei. Das Nato-Mitgliedsland Türkei ist – bei niedriger Anerkennungsquote – derzeit eines der Hauptherkunftsländer von Asylsuchenden.
Ein entschiedenes Handeln der Bundesregierung ist umso dringlicher, als das Vertrauen der Menschen in den Staat Schaden genommen hat. Dieses Vertrauen aber ist die kostbarste Ressource unserer Demokratie. Um dieses Vertrauen zurückzugewinnen, braucht es eine aktive Migrationspolitik, die die vorhandenen Gestaltungsspielräume energisch nutzt und die kommunale Wirklichkeit fest im Blick hat, statt sie auszublenden.
Dazu gehört auch, dass der Bund die kommunalen Geflüchtetenkosten umfassend ausfinanziert. Denn nur der Bund, nicht aber die einzelne Kommune, kann die Fluchtmigration begrenzen und steuern. Es wäre für den sozialen Zusammenhalt fatal, wenn in Kreistagen sowie Stadt- und Gemeinderäten darüber debattiert werden müsste, welche wichtige kommunale Maßnahme zurückgestellt werden muss, um die Migrationskosten decken zu können. Daher haben wir auch die klare Erwartung, dass soweit der Bund für fluchtbedingte Aufwendungen der Kommunen nicht aufkommt, diese vom Land übernommen werden.“
Im Einzelnen erwarten die Landkreise, dass
- der Bund die rasche und vollständige Verabschiedung des EU-Asyl- und Migrationspakets aktiv vorantreibt und sie auf keinen Fall blockiert;
- der Bund den Abschluss bilateraler Rückführungsabkommen mit Herkunfts- und Transitländern forciert;
- der rechtliche Rahmen der Schutzgewährung in Europa und Deutschland dahingehend überprüft wird, ob er den aktuellen Herausforderungen noch angemessen Rechnung trägt,
- die deutschen Sozialleistungen auf ein europaweit harmonisiertes Niveau abgesenkt werden, das gemessen an den Lebenshaltungskosten der Mitgliedstaaten gleichwertig sein soll;
- die irreguläre Zuwanderung spätestens an den deutschen Außengrenzen begrenzt wird, wozu auch Grenzkontrollen beitragen können;
- die Liste der sicheren Herkunftsländer nicht nur um die Republik Moldau und Georgien, sondern auch um die Maghreb-Staaten Marokko, Tunesien und Algerien sowie das Nato-Mitgliedsland Türkei erweitert wird;
- die Asylverfahren so beschleunigt werden, dass die behördliche Entscheidung bereits in der Erstaufnahme getroffen wird und eine Verteilung von Schutzsuchenden auf die Kommunen regelmäßig nur dann erfolgt, wenn ein Bleiberecht wirksam festgestellt wurde;
- weitere Möglichkeiten der Rechtswegbeschleunigung geprüft und umgesetzt werden;
- die Arbeitsmarktintegration von Schutzsuchenden vorangetrieben wird, indem bestehende Beschäftigungsverbote überprüft werden, die Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse erleichtert wird und die bereits heute dem Grunde nach rechtlich mögliche Zuweisung in Arbeitsgelegenheiten ausgeweitet und praktisch gangbar gemacht wird;
- die Standards für Aufnahme, Unterbringung und Betreuung von Schutzsuchenden, namentlich von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, überprüft werden;
- zur finanziellen Entlastung der Landkreise vom Bund das sog. Vier-Säulen-Modell umgesetzt wird: vollständige Erstattung der Kosten der Unterkunft und Heizung für Geflüchtete im SGB II, Zahlung einer monatlichen Pro-Kopf-Pauschale für Asylbewerber, Übernahme der kommunalen Integrationskosten sowie der Kosten für unbegleitete Minderjährige;
- das Land alle fluchtbedingten Aufwendungen erstattet, die nicht vom Bund – etwa durch Umsatzsteueranteile oder die Bundesbeteiligung an Sozialleistungen – ausgeglichen werden.