Stuttgart. Das Kabinett hat einen Erprobungsparagrafen für die Kinderbetreuung beschlossen und den Gesetzentwurf zur Änderung des Kindertagesbetreuungsgesetzes zur Anhörung freigegeben. Damit sollen die Kommunen die Möglichkeit bekommen, vor Ort passgenaue Lösungen zu finden.
Der Städtetag hatte im Frühjahr einen Zukunftsparagrafen vorgeschlagen, der den Kommunen mehr Freiraum und individuelle Lösungen ermöglicht.
Städtetag, Gemeindetag und Landkreistag begrüßen die Initiative des Landes.
Die Landesregierung hat erkannt, dass die Kommunen in der Frühkindlichen Bildung auf eine Situation zusteuern, die viele Kinder und ihre Familien von einer angemessenen Förderung in der Kindertagesbetreuung abschneidet: Aktuell fehlen bereits 58.000 Betreuungsplätze. Ausgelöst wurde diese Entwicklung durch den demografischen Wandel: Bis zum Jahr 2030 werden in Baden-Württemberg bis zu 41.000 neue Fachkräfte benötigt.
Da es weder eine schnelle noch eine einfache Lösung gibt, um die Kinderbetreuung zukunftssicher zu gestalten, braucht es mehr Flexibilität im System. Die soll unter anderem entstehen, in dem die Städte und Gemeinden selbst Lösungen für sich finden dürfen.
„Die Menschen vor Ort wissen am besten, was sie brauchen, was ihnen wichtig ist und wie sich das Wünschenswerte möglichst gut mit dem Machbaren verbinden lässt. An die gegebenen Bedingungen vor Ort sollten wir anknüpfen, damit eine gute Kinderbetreuung gelingen kann. Deshalb haben wir im März die Initiative zur Einführung eines Zukunftsparagrafen im Kindertagesbetreuungsgesetz vorgeschlagen“, so Ralf Broß, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Städtetags Baden-Württemberg. „Wir freuen uns sehr über die zukunftsgerichtete Entscheidung des Ministerpräsidenten, da er diesen Vorschlag nun aufgreift und es den Kita-Trägern in den Städten und Gemeinden mit der Änderung des Landesrechts ermöglicht, passgenaue Lösungen zu entwickeln und umzusetzen. Natürlich kennen wir auch die Diskussionen, die die unterschiedlichen Interessenslagen bei den Akteuren auf Landesebene mit sich bringen. Die Verantwortlichen in den Kommunen sind von dem Grundsatz überzeugt, in Zukunfts-Dialogen alle von der Kita-Situation Betroffenen einzubinden. Die Kita der Zukunft wird vor Ort gedacht und gemacht, dabei verbindet die Verantwortlichen vor Ort der gemeinsame Wunsch nach bestmöglicher Qualität. Für den rechtlichen Rahmen ist das Land verantwortlich. Und dieser wird mit der Einführung des Erprobungsparagrafen sachgerecht geöffnet. Wir freuen uns, dass es von der ersten politischen Initiative bis zur jetzt auf den Weg gebrachten Umsetzung nur wenige Wochen gedauert hat.“
Steffen Jäger, Präsident des Gemeindetags Baden-Württemberg, sagt: „Ergänzend zu der bereits zugesagten Verlängerung der flexibilisierten Stan-dards in §1a KitaVO kann die Schaffung einer Erprobungsklausel im KitaG eine sinnvolle Möglichkeit sein, um in Zeiten knapper Personalressourcen verantwortliche Lösungen zur Gewährleistung der frühkindlichen Bildung zu gestalten und zu entwickeln. Im weiteren Gesetzgebungsverfahren muss es nun aber darum gehen, die Ausgestaltung dieser Klausel möglichst pragmatisch und unbürokratisch auszugestalten. Das Prinzip der Ermöglichung muss dabei die Leitlinie sein. Parallel zur Erprobung von Modellprojekten bedarf es jedoch auch einer grundlegenden Weiterentwicklung der Rahmenbedingungen in der frühkindlichen Bildung. In einer flächendeckenden Mangelsituation, die sich leider auch in den nächsten Jahren nicht auflösen wird, muss es darum gehen den Mindestpersonalschlüssel im Lichte der verfügbaren Ressourcen weiterzuentwickeln. Der Gemeindetag hatte dazu bereits im Februar 2022 einen Kita-Fahrplan vorgeschlagen.“
Prof. Dr. Alexis von Komorowski, Hauptgeschäftsführer des Landkreistags Baden-Württemberg, erklärt: „Der Erprobungsparagraf ist ein notwendiger Schritt, um auf die Überlastung des Systems Kinderbetreuung zu reagieren. Damit erhalten die Kita-Träger mehr Flexibilität für örtlich angepasste Modelle. Dabei geht es darum, frühkindliche Bildung auch unter den Bedingungen eines massiven Fachkräftemangels bedarfsgerecht aufrechtzuerhalten - etwa durch die Entlastung der Fachkräfte und durch einen veränderten Personaleinsatz. Allerdings müssen wir aufpassen, dass die gewonnene Flexibilität nicht durch zu viel Bürokratie an anderer Stelle wieder einkassiert wird. Daher brauchen die Kita-Träger ein unkompliziertes, auf Vertrauen basierendes Antragsverfahren, bei dem davon ausgegangen wird, dass die Vor-Ort-Verantwortlichen gesetzmäßig handeln, wenn sie dies schriftlich zusichern. Gleichzeitig müssen wir auch die weiteren Herausforderungen im Kita-System angehen, denn der Zukunftsparagraf ist kein Allheilmittel. So brauchen wir beispielsweise dringend Anpassungen bei den Regelungen zu den Dokumentationspflichten in den Kindertageseinrichtungen, denn diese binden die Arbeitszeit der Fachkräfte an falscher Stelle – und es bleibt weniger Zeit für die eigentlich wichtige Betreuung und Förderung der Kinder.“
Einig sind sich die Vertreter der Städte, Gemeinden und Landkreise allerdings über vier Punkte, die im weiteren Gesetzgebungsverfahren zum Erprobungsparagrafen vom Land noch nachgebessert werden müssen:
- Anträge für neue Konzepte bedürfen der Zustimmung der für die Kindergartenbedarfsplanung zuständigen Gemeinde oder Stadt
Alle Kita-Träger – öffentliche, freie und private – sollen sich auf den Weg machen und Anträge für neue Konzepte stellen können. Das kann aber nur im Einvernehmen mit denen erfolgen, die darauf hinwirken müssen, dass es vor Ort ausreichend Kita-Plätze in bestmöglicher Qualität gibt. Das sind in Baden-Württemberg die Städte und Gemeinden.
- Keine inhaltliche Prüfung der Anträge durch das Landesjugendamt
Die Beteiligungsprozesse zur Entwicklung neuer Ansätze in den Kitas laufen vor Ort. Vertreterinnen und Vertreter von Eltern, Kita-Personal, Einrichtungsträgern, Unternehmen, Behörden und Verwaltung sowie Gemeinderat sind hieran aktiv beteiligt. Neue Lösungen werden von den Experten in eigener Sache und in eigener Verantwortung gefunden. Daher reicht es aus, wenn der überörtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Antragsunterlagen, einschließlich einer Erklärung zur Gewährleistung auch der bundesrechtlichen Regelungen, auf Vollständigkeit prüft und somit auch schnell „grünes Licht“ zur Umsetzung geben kann.
- Eine Befristung bremst Zukunfts-Handeln
Es muss den Beteiligten vor Ort überlassen werden, ob sie die Erprobung neuer konzeptioneller Ansätze zeitlich befristen wollen. Wer von Beginn an nur für einen Drei-Jahres-Zeitraum planen darf, denkt vielleicht nicht weit genug. Es braucht kreative Lösungen, die nicht an starre Zeiträume geknüpft sein sollten.
- Zukunftsparagraf allein reicht nicht
Es müssen zeitgleich mehrere unterschiedliche Lösungsansätze verfolgt werden, um der zunehmenden Not des Kita-Systems zu begegnen. Neben der Einführung eines neuen Zukunftsparagrafen brauchen die Kommunen dringend auch die Änderung bestehender Regelungen zu Angebotsformen, zum Fachkräftekatalog, zum Mindestpersonalschlüssel und zu den Dokumentationspflichten in den Einrichtungen. Die vom Kultusministerium versprochene Arbeitsgruppe muss jetzt unter Einbeziehung auch des Kommunalverbands für Jugend und Soziales dringend ihre Arbeit aufnehmen und schnell weitere konkrete Vorschläge für weitere Reformen der frühkindlichen Bildung erarbeiten.
Auch im Rahmen der jüngst verabredeten Entlastungsallianz kann die Zukunftssicherheit der frühkindlichen Bildung eine Rolle spielen und ein Beispiel für ein gelingendes Miteinander vieler unterschiedlicher Beteiligter werden – ohne überbordende Bürokratie, Rechtsnormen und Standards.
Außerdem biete sich jetzt die Gelegenheit, auch grundsätzlich über die Finanzierung der Kinderbetreuung nachzudenken.